Über das Geistige im Stein – Je ne sais qois

„Mein Zugang zur Form entsteht intuitiv…Immer steht man vor dem scheinbaren Nichts…das Arbeiten in dieses Nichts hinein, der Intuition folgen…“ (Helmut Hirte, * 1949 in Heddesheim)

Helmut Hirte ist seinen Weg ins Geistige immer entlang des Steins gegangen. Der Stein ist das Medium, das sich scheinbar der ätherischen Leichtigkeit des Geistigen entgegen stemmt und entzieht und dennoch nach dieser Leichtigkeit der Erlösung lechzt wie der Durstige an einem Sommertag. Und auch das Geistige will einen Teil seiner Substanzlosigkeit verlieren und sich inkarnieren und inkorporieren, Teil dieser Welt werden: der Gegenwärtigen, der erinnerten Vergangenen, der Zukünftigen.

Hirte hat Anfang der siebziger Jahre das Steinmetz und Steinbildhauerhandwerk gelernt. Nach dem Studium des Bauingenieurswesens (1974 bis 1979) in Darmstadt ließ er sich als Bildhauer in Aschaffenburg nieder. 1986/87 wurde er Schüler von Willi Schmidt an der Städelschule in Frankfurt, 1986 von Josef Pillhofer an der Sommerakademie Salzburg und lernte ein Jahr später Karl Prantl auf einem Symposion am Untersberg kennen. Stein ist die Grundlinie dieser künstlerischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. War es zunächst die Zerstörung des Klischees des Steins, das Aufbrechen der glatten Oberfläche des maschinell gefertigten Erinnerungsersatzes gegenwärtiger Friedhöfe, so suchte sich Hirte parallel dazu Wege, die direkter in das Wesen des Steins führen.

Im Anschluss an die Teilnahme an einem Bildhauersymposium in Österreich 1987 folgten Großaufträge im öffentlichen Raum vor allem figurative Brunnenskulpturen aus Stein. Hirtes Skulpturen, Reliefs und Halbreliefs finden sich ebenso an öffentlichen Orten des Gedenkens wie in Privatgärten.

Kontinuierlich entstehen zudem zahlreiche Erinnerungswerke. Erinnerung wird immer stärker die geistige Kategorie der Auseinandersetzung mit dem Stein. Es entstehen Skulpturen und Installationen, die ihr Innenleben zeigen wollen. Sie treten in die Kommunikation und in das Gespräch mit den Anderen ein. Sie fordern den Betrachter zum Kommentieren von Bedeutung auf. Aber der Künstler hat in seinen Nicht-Worten, den noch-nicht Begriffen und den über allen Wörtern und Deutungen liegenden Gestaltungen alles gesagt, was er zu sagen hatte. Darüber hinaus weiß ich nichts: „Je ne sai quois“.

Das Nicht-Wissen will sich bei Hirte im Laufe der Jahre stärker wahrnehmen. Neben die Artefakte, die Skulptur, die Installation, den Stein, das Relief treten zunächst existenzielle Themen aus Kunst und Gesellschaft. Seit 1999 veranstaltet er „Werkstattgespräche“ um Kunst, Tod, Erinnerungskultur, Gegenwart.

Dann macht er sich selbst auf den Weg und organisiert Kunst- und Erinnerungsprojekte. Als Künstler wird er Kurator, weil der Dialog selbst Teil der Kunst wird: „Erinnern als Weg – eine Ausstellung in fünf Stationen“ in Aschaffenburg.

Aber auch das genügt noch nicht. Der eigentliche Dialog ist ein Gespräch auf verschiedenen Ebenen. Das Geistige in der Kunst zeigt sich am besten in der gesamten Tätigkeit des Künstlers. 2009 eröffnet er den „Kunstraum Hirte“ mit Zeichnungen von Bildhauerpersönlichkeiten aus ganz Deutschland.

Gezeichnete Reflexionen um den Entstehungsprozess von Kunst werden Hirte zunehmend wichtiger. Sie selbst treten in den öffentlichen Raum ein und wissen nichts über das hinaus, was sie zeigen: „Je ne sai quois“. Sie wollen sich als Entwürfe zeigen, Momente der Auseinandersetzung des Geistes, Facetten der Intuition, gebrochenes Glas, das den Himmel spiegelt.

Zeichnungen, Entwürfe, Skizzen, Fragmente zeigen die Innenseite des künstlerischen Prozesses. Sie weisen auf das Geistige in der Kunst: Antipoden des massiven Steins und der Schwere einer Bronzestatue. Zweidimensional, flüchtig, auf Papier. Es lag nicht in ihrer Absicht, sich zu zeigen, aber Helmut Hirte macht sie zu einem Teil des Gesamtprozesses. Der Geist befreit das Materielle des Werks in die Imagination des Betrachters.  Die Skulptur befreit den Geist in seine Wirklichkeit.

 

Arbeit am Leib

                                                                                                           Helmut Hirte 2023