HELMUT HIRTE

Lange Wege | 2008 | Untersberger Marmor | 120x30x37 cm

JE NE SAIS QUOI

„Stein trägt alles in sich,
was den Menschen
ausmacht“
      (Helmut Hirte)

Das gewisse Etwas

„Ich weiß nicht, was“: Eine Formel mit Wurzeln in der Antike und Blütezeit in der Ästhetik des 17. Jahrhunderts erklärt Helmut Hirte zum Schlüsselbegriff seiner Kunst. Eine Wendung, die die Unmöglichkeit bezeichnet, einen ästhetischen Gegenstand begrifflich und abschließend zu fassen. Sie besagt, dass alle Definitionsversuche angesichts der blanken, nicht planbaren Sensation künstlerischer Schöpfung ins Trudeln geraten können. „Spätestens seit der Romantik wurde es von vielen als Zumutung empfunden, danach gefragt zu werden, was denn Kunst sei.

"ich werde ihn noch treffen"

HELMUT HIRTE

Hommage an die Natur | 2008 | Holz, Epoxidharz, Gips, Kautschuk | 172x50x130 cm

JE NE SAIS QUOI

Es zeichnete jeden ernsthaft Kunstinteressierten aus, dieser Frage auszuweichen – aber nicht, weil er keine Antwort darauf wusste, auch nicht aus Bequemlichkeit, weil er sich vor einer Definitionsanstrengung drücken wollte, sondern aus dem Gefühl heraus, dass Kunst per se nicht begrifflich fassbar sei.“ (1)

Im 18. Jahrhundert stellte der französische Sensualist Pierre Carlet de Marivaux Schönheit, verstanden als Klarheit, Regelmäßigkeit und Perfektion, dem Je ne sais quoi gegenüber, jenem Restgeheimnis mithin, das große Kunst auszeichnen soll. In der Idealvorstellung geht sie über das objektiv Schöne hinaus, übertrifft noch die Reize, die in Symmetrie und Perfektion liegen, erreicht womöglich nebelhaft unergründliche Sphären, die sich ins Magische oder Mystische fortsetzen.

 

Wie die peitschenden Gardinen aus Gischt, die ein Zeichen stürmischer See sind, wühlt wahre Kunst auf, erscheint überwältigend und unzugänglich demjenigen, der sie ganz durchdringen will. Sie stemmt sich Deutungen entgegen oder überrollt sie, ereignet sich jenseits dessen, was der Verstand erfasst, in einer Weise, die auch deshalb kaum erörtert werden kann, weil das sprachliche Äquivalent fehlt. Auf mitunter geheimnisvolle Art berührt sie komplexe Bereiche der menschlichen Empfindung und Vorstellung – im Extremfall das Metaphysische.
„Je ne sais quoi“ ist, formal betrachtet, ein auffallend schlichtes Werk.
Es besteht aus Dutzenden rechteckigen Platten aus Muschelkalk, die übereinander gelegt sind. Auf der obersten Platte ist die hintergründige Formel in gefärbtem Epoxidharz eingelassen.

Haus

Haus

HELMUT HIRTE

Erinnerungsmodule | 2003
Epoxidharz, Bronze
140x35x92 cm

SE NE SAIS QUOI

Ich will

„Ich weiß nicht, was“: Im Deutschen wie im Französischen vier kurze Worte. Ergiebig dagegen die  kunstphilosophische Auslegung. Hirtes Oeuvre provoziert das „Je ne sais quoi“ durch die Form. Facettenreichtum ist das Charakteristikum seiner Kunst, doch sie verschließt sich auch. Sein Oeuvre verhandelt existentielle Fragen –  woher, wohin, wozu. Immer wieder wird zum Ausdruck gebracht, dass kein Mensch wissen kann, wer er wirklich ist, und wozu er eigentlich da ist.

Die Bodenskulptur bestand lange, bevor ihr Titel gefunden wurde. Eines Tages greift Hirte ihn auf wie die Urmenschen in Stanley Kubricks Weltraumoper 2001: Odyssee im Weltraum den Einfall, Knochen

als Werkzeug und Waffe zu verwenden, was zum Homo Faber – dem schaffenden Menschen – führte sowie die Voraussetzungen jeder künstlerischen Äußerung bedeutete. Tatsächlich erfüllen die beziehungsvollen Worte Hirtes Kosmos ähnlich wie Kubricks Film der rätselhafte schwarze Monolith: Als überzeitliches Symbol.

„Ich hatte diese Plattenskulptur über ein Jahr in der Werkstatt hin- und hergeräumt“, sagt der Bildhauer, „sie war mir wichtig.“ (2)  Die Platten bilden einen Schlüssel zu seinem Werk.

Wozu ist Kubricks schwarzer Monolith da? „Man könnte“, schlägt Gottlieb Florschütz vor, „den schwarzen Monolithen als multifunktionales Symbol ansehen: Auf der ersten Ebene ist er nicht mehr als ein leeres Zeichen, das die Handlung immer wieder in Gang setzt, ohne dass es selber von ihr je wirklich berührt wird. Wenn „2001” die Berührung von Wissenschaft und Kunst bedeutet, so ist der Monolith die Begegnung von Idee und Materie; eine Materie, die ihr eigener Ausdruck ist; eine Idee, die nicht Sprache noch Diskurs werden will.“ (3) Vergleichbares gilt bei Hirte. Idee und Materie berühren sich in eben diesem Sinne. „Erinnern und Gedenken“, das sich auf die innere Suche, die Einbeziehung und anhaltende Irritation des Betrachters erstreckt, sind für den Bildhauer zentral. Die Materie dient der Vermittlung und ist  doch ihr eigener Ausdruck. Verbales Blow up verbietet sich.

Bis Hirte  „das gewisse Etwas“ vor Augen hatte, entstanden Architekturzeichnungen und Installationen, Torsi und abstrakte Steinplastiken, Arbeiten aus Dachlatten und Ästen sowie „Erinnerungsmodule“ aus Epoxydharz und Bronze. Einige sind, formal betrachtet, entfernte Verwandte von Kubricks Monolithen.

Dessen Objekt zwischen Materie und Idee spricht nicht zu jedem und nicht zwingend in einem allgemein verständlichen Idiom. Kubricks Stein ist ebenso lesbar als Chiffre der Evolution wie Zeichen einer abstrakten Gottesvorstellung. Auch daher wirkt er unheimlich und erregend zugleich, er bedeutet den Morgen der Menschheit und das Wissen um Machbarkeit.

Bei Kubrick steht das Artefakt für höhere Intelligenz und die Tatsache, dass der Mensch sich als einziges Wesen seiner selbst bewusst werden kann. In seinem Film, der 40 Jahre nach der Mondlandung ebenso eine Würdigung verdient wie diese, hält die wissenschaftliche Exaktheit der Faszination an der Unergründlichkeit die Waage. „Je ne sais quoi.“

Urmensch und geschliffenes minimalistisches (Kunst-)Objekt stehen einander im Film unvermittelt gegenüber. Hier die perfekte Stele  –  dort der Mensch in seiner Fehlbarkeit. Den Urmenschen trifft das Licht der Erkenntnis schlagartig. Ihn trifft förmlich der Schlag.

Nunmehr entwickelt er Werkzeug, bewaffnet sich, entwickelt sich als Gattung in eine neue Richtung, kostet den Zugewinn an physischer Kraft und weitet seinen Herrschaftsbereich aus.

Kubricks Monolith birgt die Idee des Fortschritts. –  wie des Verfalls. Er steht wie die Skulpturen von Helmut Hirte für Gesetzmäßigkeit und kognitive Erhellung, für Metaphysik und Wissenschaft. Für Symmetrie, Reinheit und Klarheit –  doch auch für das gewisse Etwas, das sich der Erklärbarkeit entzieht. Der schwarze Block darf begriffen werden als Hinweis auf Kunst als Kulturprodukt,  steht für Zivilisation ebenso wie für Endzeit.

„Ich habe versucht, ein visuelles Erlebnis zu schaffen, welches die sprachlichen Einordnungsschemata umgeht und mit seiner emotional-philosophischen Botschaft direkt zum Unterbewusstsein vordringt“, sagte der Regisseur, „ich war bestrebt, den Film als intensiv subjektive Erfahrung zu kreieren, die den Zuschauer auf einer inneren Bewusstseinsebene erreicht, genauso wie Musik.“ (4) Ein Kunstwerk, das diese Sphäre erreicht, hat Bestand. Auch Helmut Hirte klopft das Artefakt ab auf sein Wirkungsfeld und das Darüberhinaus. Kubrick zeigt zum Schluss einen Embryo, Hirte einen unfertigen Sarkophag.

Technische Rationalität, kantig kubische Metaphorik, die Setzung unterschiedlicher Materialvolumen zum Zwecke gültiger Formfindung – das sind Aspekte seiner Sprache. „Durchbruch mit Architektur“, im Jahr 2008 in schwarzem Granit realisiert, erinnert an Kubricks Monolithen. Nur ist Hirtes Bildwerk kein quaderförmiger Steinpfeiler, kein „einheitlicher Stein“, sondern er dient – je nach Blickrichtung – als Tor, Durchgang oder Rahmen. Hirte ging bei dieser Arbeit  noch einen Schritt weiter als bei der Stahlstele aus dem Jahr 2007, einer monochromen Skulptur, die innen mit Samt ausgekleidet ist, welcher durch eine rechteckige Öffnung zu sehen ist. Er führt eine zusätzliche räumliche Ebene ein.

Der minimalistische Ausdruck ist ein Kennzeichen seiner Kunst. Gleichwohl geht es auch um körperhafte Assoziationen. Elementare kreatürliche Haltungen wie Stehen und Liegen umkreist er zeichenhaft. Dabei rührt Hirtes moderne Archaik an bildhauerische Urformen. Am Anfang war der Stein.

„Studie zum Sarkophag“ nennt der Bildhauer eine interpretationsoffene Arbeit. Einen Block aus rotem Main-Sandstein schnitt er auf, höhlte ihn aus, ließ ihn liegen. Ein Objekt, das gekippte Stele und versehrter Balken ist, eine asymmetrisch sperrige Bodenskulptur. Die  Monumentalität des Steins  –  seiner Trägerfunktion ostentativ beraubt und als Architrav oder Raumstütze buchstäblich nicht mehr tragbar -, verbindet sich der Idee des Freiraums. Anarchische Antiordnung, Anfang zum Ende?

Hirte empfindet die Steinskulptur grundsätzlich als „erstarrte Lebensenergie“, deren Gewicht und Härte die nur oberflächliche Annäherung seitens des Skulpteurs ebenso wenig zulässt wie eine unreflektierte Haltung des Betrachters: „Die über Jahrtausende transportierte Erinnerung erfordert den Respekt beim Umgang mit dem Material, er beinhaltet die menschliche Existenz und das Vergehen“. Schließlich liegt der Arbeit mit Stein, wie Hirte sagt, die „Auseinandersetzung in drei Dimensionen zugrunde entsprechend meiner Körperlichkeit und dem mich umgebenden Raum.“ Unweigerlich drückt sich im bildhauerischen Werk die physische Existenz seines Schöpfers aus. Die Grenzen der Gestaltgebung definiert das schöpferische Ich. Das schließt monumentale Formate nicht aus.

Steinbildhauerei gilt als traditionelle künstlerische Äußerung. Im 21. Jahrhundert  ist ihre Kraft ungebrochen.  Das ist es, was Helmut Hirte zum Ausdruck bringen will: „Das Material Stein trägt alles in sich, was den Menschen ausmacht.“ Vom Morgen der Menschwerdung bis zum Untergang. Es geht um „das Jetzt, das Innehalten, das Ich und das Andere“, den „Dialog mit dem  Außen und dem Ort“. Hirte fesseln die (Erkenntnis-)Stufen und Übergänge: „Es ist die Auseinandersetzung mit den Zwischenräumen, die sich in meiner Formensprache offenbart.“ Das unermüdliche Kreisen um Drinnen und Draußen bringt er auf eine Formel, die für das Leben als solches stehen kann und sein abruptes Ende: „Herzrhythmus, Atem und Stille.“

Bei Kubrick sterben die Astronauten in sarkophagartigen Tiefschlafkammern. Ihr Ableben bedeutet vielerlei. Dass den Menschen umbringen kann, was er ehrgeizig erschafft, sowie auch die Gnade des Davonkommens in ausweglosen Situationen. „In jeder Bewegung dieses endlichen Lebens ist schon die Stille des Todes anwesend“, sagt Hirte. Er sucht eine skulpturale Wirklichkeit zu formulieren, die auf sich selbst verweist und einen Rest Ungewissheit lässt. Gegen dieses „Duell mit offenem Ende zwischen Weitergehen und Verharren und somit auch zwischen Leben und Tod“ setzt er die bildhauerische Freiheit der Gestaltung: „Imaginäre Sinnbilder stellen sich der Rationalisierung der Lebensbereiche entgegen.“

Wenn Kunst über den Tag hinausgehen will, muss sie auf  Wesentliches hindeuten –  auf „das, was Menschsein ausmacht“. Hirtes künstlerisches Ziel ordnet sich dem höheren unter: „Dem Vergessen entgegenzuwirken, ist Bestandteil meiner täglichen Existenz.“

Er meißelt verschiedene Steinarten –  Unterberger Marmor mit der charakteristischen rosa Färbung, Sandstein, Diabas, Granit -, artikuliert sich abstrakt geometrisch und archteypisch vereinfacht. Ein universeller Anspruch kennzeichnet sein Oeuvre, das durch raue Oberflächen, Vor- und Rücksprünge, kompakte Formen und formale Komplexität den Tastsinn ebenso herausfordert wie den Intellekt. Nicht nur Materialität und Plastizität bestimmen die Rezeption, sondern immer wieder auch die Leere, der Hohlraum, die Öffnung im Stein, das Nichts. Es geht um das sensationelle Erlebnis des Einfachen: „Ich weiß nicht, was.“

„Die Sehnsucht nach Überraschungen, wie sie Montesquieu beschrieben hatte, war gross, und die Lust an einem Effekt des «je ne sais quoi» führte dazu, dass zum ästhetischen Ideal wurde, was einen Superlativ an Vielfalt mit einem Maximum an Beiläufigkeit verband. Die

Kunst bestand in Techniken des Understatement und Versteckspiels, nicht mehr in der makellosen Demonstration von Regelwerken. Alles war auf den Moment hin ausgerichtet, in dem jemand erkannte, wie

subtil und interessant etwas vermeintlich ganz

Einfaches doch war (was nicht gleichbedeutend damit sein musste, die Künstlichkeit des Komplexen zu entdecken).

Das Staunen über ein plötzlich erfahrenes Mehr an Reiz und Bedeutung sollte so sprachlos machen, dass als Reaktion nur ein «je ne sais quoi» blieb.“ (5)

Ein Homo Faber muss kein Walter Faber werden. Im Gespräch mit Schülern erläuterte Max Frisch einmal seinen Charakter: „Dieser Mann lebt an sich vorbei, weil er einem allgemein angebotenen Image nachläuft“ –  dem der ‚Technik‘. Im Grunde sei seine Titelfigur jedoch kein Techniker, sondern ein verhinderter Mensch, der von sich selbst ein Bildnis gemacht hat, das ihn daran hindere, „zu sich selber zu kommen.“ (6) Helmut Hirte macht Bildnisse für Menschen, die zu sich gekommen oder auf dem Weg  sind.

 

Dorothee Baer-Bogenschütz

 

(1) Wolfgang Ullrich, Was war Kunst? Biographien eines Begriffs, Frankfurt am Main 2006, S.26.

(2) Helmut Hirte im Gespräch mit der Autorin, 2009, alle weiteren in diesem Buch veröffentlichten und nicht anders gekennzeichneten Zitate ebd.

(3) Gottlieb Florschütz, Kubricks Space Odyssey – revisited in 2001, zit. nach http://cinetext.philo.at/magazine/2001.html

(4) Stanley Kubrick: Playboy Magazin 1968, zit. nach http://de.wikipedia.org/wiki/2001%E2%80%93_Odyssee_im_Weltraum

(5) Wolfgang Ullrich, Was war Kunst? Biographien eines Begriffs, Frankfurt am Main 2006,  S.17.

(6) Max Frisch im Gespräch mit Schülern, zit.  nach: Müller-Salget: Max Frisch. Homo Faber, S. 139.