Schöner Schein, die Welt und Identität
Vom schönen Schein der Welt – ein Essay über Wahrnehmung, Sinnlichkeit und Identität
„Ein Text über die Schönheit als Trugbild und Möglichkeit, über die Sinne, die Welt und das, was im Ästhetischen auf dem Spiel steht.“
Vorwort
Wir leben in einer Zeit, in der das Sichtbare das Wirkliche verdrängt. Ästhetik ist zur Leitwährung geworden – in Werbung, Politik, Architektur, Konsum. Doch der Mensch verliert darin seine sinnliche Verankerung. Dieser kurze Text untersucht, wie Kunst und Design im Zeitalter digitaler Kontrolle ihre Grenzen verlieren und welche Verantwortung daraus für die Kunst entsteht. Er plädiert für eine Rückkehr zur Erfahrung, zur Berührung, zum Spüren der Welt – als Voraussetzung für Freiheit und Identität. Kunst wird hier als Widerstand verstanden: als Raum der Wahrnehmung gegen die glatte Logik des Marktes, als Bewegung hin zum Lebendigen.
Schöner Schein, die Welt und Identität
In einem Zeitalter, in dem die Ästhetik allgegenwärtig ist, hat sich die Kunst in Teilen mit dem Design verbündet, und beide sind Teil eines Systems geworden, das Schönheit in Produktivität verwandelt. Alles ist gestaltet, optimiert, codiert – selbst der Blick. Was wir sehen, ist weniger die Welt als vielmehr die Oberfläche ihrer Darstellung.
Kunst, die einst das Andere des Nutzens war, ist in ihrer ästhetischen Verfügbarkeit selbst zum Ornament des Marktes geworden. Die Erfahrung, die einst aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren entstand, verliert an Tiefe. Das Auge konsumiert, was es nicht mehr befragt. Der schöne Schein ersetzt die sinnliche Erfahrung.
Das Design der Dinge spricht die Sprache der Sehnsucht. Es will den Körper erreichen, ohne ihn zu berühren. Es verspricht Nähe in der Distanz und Sinnlichkeit im Digitalen – eine neue Ästhetik der Kontrolle, die Shoshana Zuboff als „Überwachungskapitalismus“ beschrieben hat: die Schönheit der Oberfläche als Tarnung der Ausbeutung.
Axel Honneth hat gezeigt, dass Verdinglichung dort beginnt, wo der Mensch aufhört, den anderen als lebendiges Gegenüber wahrzunehmen. In der Ästhetisierung des Alltags droht genau dies: die Welt verliert ihr Widerständiges, sie wird zur Kulisse, zum Erlebnisraum ohne Erfahrung. Die Antike kannte die Schönheit noch als Ausdruck des Guten, des Maßes und der Ordnung der Welt. Bei Aristoteles war das Schöne nicht äußerlich, sondern ein Moment der Harmonie von Stoff und Form, von Potenz und Verwirklichung. Heute ist das Schöne oft nur noch Bild – ablösbar, reproduzierbar, austauschbar.
Das digitale Zeitalter erzeugt eine neue Form von Weltlosigkeit. Bilder lösen sich von den Dingen, Identität wird zum Interface, das Selbst zur Oberfläche. Der Mensch kuratiert sein eigenes Dasein, aber er spürt es nicht mehr im Verhältnis zwischen Leib und Körper. Der Leib, das Medium aller Erfahrung, wird zum blinden Fleck der Ästhetik. Der Verlust der Sinnlichkeit ist zugleich ein Verlust der Verantwortung. Denn nur, wer wahrnimmt, kann antworten. Das Gefühl, das Berühren, das Spüren – sie sind die Sprache, in der die Welt uns begegnet. Wenn diese Sprache verstummt, verliert auch die Kunst ihre Bedeutung. Kunst, die sich dem schönen Schein verweigert, ist unbequem. Sie zeigt nicht, was gefällt, sondern was berührt, irritiert, verwandelt. Sie ist der Ort, an dem das Wirkliche wieder spürbar wird – jenseits des Marktes, jenseits des Algorithmus.
Die Aufgabe des Künstlers ist heute, den Raum des Sinnlichen offenzuhalten – gegen die Reduktion auf das Sichtbare, gegen die Gleichschaltung des Geschmacks. Kunst als Widerstand bedeutet: den Menschen wieder an seine Wahrnehmung zu erinnern. Der schöne Schein bleibt, aber er kann sich wandeln. Er wird dann nicht zum Trugbild, sondern zur Schwelle: ein Ort, an dem die Oberfläche durchlässig wird und Tiefe wieder erfahrbar ist.
Text : Helmut Hirte
Literaturverzeichnis (Auswahl)
- Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Suhrkamp.
- Aristoteles: Metaphysik. Reclam.
- Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Suhrkamp.
- Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Suhrkamp.
- Honneth, Axel: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie. Suhrkamp.
- Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. Kröner.
- Schmitz, Hermann: Der Leib, der Raum und die Gefühle. Olms.
- Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus Verlag.
Helmut Hirte, Aschaffenburg, Oktober 2025
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Themenbereich Leib/Körper
Warum ich mich mit dem Thema -Leib/ Körper und was Menschsein ausmacht- inhaltlich intensiver auseinandersetze, ist der Wunsch, unsere Gefühle, unsere Intuition, unsere Sinnlichkeit in der immer stärker digitalisierten, technisierten und auf vielerlei Weise manipulierenden Umwelt, wieder in den Vordergrund zu rücken. Dies soll in meiner künstlerischen Auseinandersetzung sichtbar werden.
Meine gedankliche Auseinandersetzung mit diesem Thema finden Sie unter Vita/Texte:
„Die Einheit von Körper, Leib, Seele und Geist – Eine Reflexion über das menschliche Sein“
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